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  • AutorenbildAileen Stechow

Vom Gefühl, die Zeit nicht zu nutzen

Aktualisiert: 23. März 2023

Kennst du das auch? Du hast das Gefühl von einem Problem zum nächsten zu hetzen, das Gefühl „immer wieder kommt etwas neues, das ich lösen muss“. Gerade habe ich endlich mal alle Rechnungen bezahlt, dann geht das Auto kaputt… wieder das nächste, mit dem ich mich beschäftigen muss. Wann komme ich endlich zur Ruhe? Wann hab ich endlich mal frei?


Es geht ziemlich schnell, dass wir die Welt wahrnehmen als etwas, das uns Aufgaben vor die Füße legt und wir sind ständig damit beschäftigt, Dinge „abzuarbeiten“ oder zu erledigen. Das nächste ToDo, die nächste Rechnung, das nächste Problem, den nächsten Streit, das nächste Projekt…



Und schon ist wieder Freitag - war nicht eben erst Sonntag? Was hab ich denn die ganzen Tage nur gemacht?

Was wir oft nicht merken, ist dass wir selbst all die Dinge da tun. Dass wir selbst jeden Tag viele kleine Entscheidungen treffen, die aneinandergereiht letztendlich unser Leben bilden. Und manchmal tut es ziemlich weh, zu erkennen, wie oft wir Dinge tun, einfach um unsere Zeit totzuschlagen (leider ist das Smartphone oft wie ein Wurmloch, das einen verschluckt).


Manchmal haben wir auch die Idee, die Zeit, die wir haben, mit möglichst vielen Dingen vollstopfen zu müssen, mit tollen Aktivitäten, Hobbys, oder damit, uns möglichst gut über etwas zu informieren. Und manchmal fühlt es sich dann trotzdem nicht „erfüllt“ an, weil wir letztendlich wieder die Dinge einfach abgearbeitet haben. Vielleicht kennst du ja das Phänomen mit den Bucket Lists (z.B. Orte, die ich unbedingt gesehen haben will oder Dinge, die ich unbedingt erlebt haben will)… Am Ende kannst du einen Haken auf deiner Liste machen, aber es bleibt ein flaues Gefühl in der Herz-Bauch-Gegend und ein nagender Zweifel im Hinterstübchen, ob es das denn jetzt gewesen sein soll.


Ein paar Gedanken über Zeit


Zeit ist etwas, das uns allen gleich zur Verfügung steht. Wir können nur darüber entscheiden, womit wir sie verbringen.


Zwei Sätze, die so simpel klingen und schnell gesagt sind und doch so eine große Tragweite haben, wie ich finde, wenn wir sie einmal wirken lassen. Als ich sie das erstmal gehört habe, hat mich das sehr getroffen. Weil es so wahr ist. Es stimmt, jeder hat die gleiche Menge Zeit, wir kommen auf die Welt, das Leben liegt vor uns. Und dennoch ist sehr unterschiedlich, wie wir es wahrnehmen. Und… es bedeutet auch, dass wenn du dich heute lieber für die 2 Überstunden auf Arbeit entscheidest und dafür deiner guten Freundin eure Verabredung absagst, dann hast du das entschieden. Dabei geht es überhaupt nicht um Schuld, natürlich gibt es immer Dinge, die dringend notwendig sind und wir haben alle unsere Verpflichtungen usw. Und: am Ende ist es meine Entscheidung, wohin ich meine Zeit gebe.

Je mehr mir das bewusst wird, desto mehr hab ich auch die Chance, zu schauen, wie ich mein Leben eigentlich haben möchte. Und vielleicht zumindest bei ein paar kleinen Entscheidungen des Tages diesen Kompass im Blick behalten (vielleicht ist ja die Verabredung heute doch wichtiger als noch diesen einen Auftrag von der Liste streichen zu können).


Zeit vergeht, das ist eine Tatsache - und: Zeit ist das einzige in unserem Leben, das wirklich begrenzt ist, und vor allem auch das einzige, was wir nicht wiederholen oder reparieren können (wie Geld oder das kaputte Auto).


Wieder ein einfacher Satz und wieder eine große Bedeutung - erst recht in unserer Zeit, denn wenn ich mich umschaue, bekomme ich oft das Gefühl, dass wir leben, als hätten wir unbegrenzt Zeit. Wir verschieben Dinge, die uns wichtig sind und sagen Dinge wie „Wir müssen uns unbedingt mal wieder treffen“ und tun es dann jahrelang nicht. Wir lassen Chancen für eine schöne Begegnung vorbeiziehen oder schauen gar nicht hin, weil wir mit anderen Dingen beschäftigt sind. Wir sitzen mit einem lieben Menschen im Café und schauen uns die neuste Insta-Story auf dem Smartphone an, weil es einfach so verlockend ist).


Dass die Zeit vergeht, bedeutet auch, dass wir ständig etwas gehen lassen müssen. Den schönen Moment eben, die Freude, das Gefühl der Freiheit, das gemeinsame Erlebnis - die Jugend, das Studium, den Urlaub, die Kindheit der eigenen Kinder. Das heißt auch… und hier zeigt sich ein aus meiner Sicht sehr spannender Aspekt: Dass wir die Endlichkeit und die Vergänglichkeit des Augenblicks und letztlich des Lebens fühlen und dieses Gefühl regulieren können müssen. Etwas, das wir bestenfalls im Austausch und miteinander lernen können und vor allem auch etwas, das Raum und Aufmerksamkeit braucht. Etwas zutiefst Menschliches und mittlerweile glaube ich - die schwerste Aufgabe des Menschseins überhaupt. Wir sind die einzige Spezies (zumindest gehen wir davon aus), die weiß, dass ihre Zeit auf der Welt begrenzt ist, also sind wir auch die Einzigen, die mit diesem Wissen leben müssen. Oder dürfen?

Die großen Fragen des Menschseins


Viele Menschen, die ich kenne und auch in Therapie erlebe ich das immer wieder, haben große Angst vor dem Thema Vergänglichkeit und sicher ist es etwas, dem wir uns vorsichtig und in verdaulichen Häppchen nähern dürfen. Es ist für uns schwer fassbar und es hat mit Dankbarkeit, Demut und der Frage nach Sinn und Bedeutung zu tun. Und: Es betrifft uns alle, und ich persönlich glaube auch, dass es uns alle beschäftigt, ob wir wollen oder nicht.

Leider habe ich auch häufig erlebt, dass diese großen Fragen selbst in Therapien keinen Raum bekommen, dabei ist es aus meiner Sicht, eine der wichtigsten Fragen, die wir uns stellen können und die viel verändern kann.


Wie möchte ich meine Zeit verbringen?

Was ist mir wirklich wichtig?

Was erfüllt mich?

Wann fühle ich mich lebendig?


Meine Erfahrungen ist, dass es einen riesigen Unterschied macht, ob wir passiv dabei zusehen, wie die Zeit verstreicht und in dem Gefühl bleiben, eben keine Zeit zu haben und dann von Zeit zu Zeit Panik bekommen, dass wir unser Leben verpassen, nur um dann schnell die nächsten Aktivitäten zu planen, nur um das ja nicht fühlen zu müssen. Oder ob wir uns ein bisschen trauen und auch erlauben, der Angst, der Traurigkeit und auch dem Vertrauen in das Leben hin und wieder etwas Raum zu geben und damit die Sicht frei machen, für das, was uns tief berühren möchte. Was uns Zeit und Raum vergessen und uns ganz und gar im Hier und Jetzt landen lässt. In dem Moment, wo wir spüren, was es heißt ein Mensch zu sein, am Leben zu sein, mit allen Schwächen und Verletzlichkeiten, die das mit sich bringt.


Und vielleicht gelingt es uns, immer ein bisschen mehr, Dankbarkeit zu fühlen für das Geschenk, zu leben. Und die schmerzliche Schönheit darin zu sehen, dass es nicht für immer ist.

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