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Wie du Psychotherapie wirklich für dich nutzen kannst (Teil 1)

  • Autorenbild: Aileen Stechow
    Aileen Stechow
  • 21. Okt.
  • 7 Min. Lesezeit

Du hast schon einmal in einer Therapie gesessen und dich am Ende gefragt, was soll das überhaupt? Was bringt es mir, mich mit einer Psychotherapeut*in zu unterhalten über alltägliche Probleme? Du hast Listen über positive Aktivitäten, Fragebögen, Symptomlisten und hefterweise Arbeitsblätter ausgefüllt und kommst trotzdem schlecht an deine Ressourcen, wenn du sie am meisten bräuchtest?


Vielleicht hattest du am Ende der Therapie nicht das Gefühl, dass sich grundlegend etwas an deinem Leben geändert hat, dass deine Beziehungen besser funktionieren, du mehr Energie hast, du neue Wege einschlägst, dich Dinge traust, die du dich vorher nie gewagt hättest… Gerade, wenn man das erste mal in Therapie ist, haben wir oft noch keine Ahnung, was Psychotherapie eigentlich ausmacht und was für Veränderung notwendig ist und überhaupt, um welche eigenen Prozesse es womöglich geht.


Eine Frau in der Therapiesitzung, die zugewandt und präsent ihre Geschichte erzählt.

In diesem Artikel beschäftige ich mich mit der Frage, was du als Klient*in tun und worauf du achten kannst, um Psychotherapie wirklich für dich zu nutzen und tatsächlich Neues in deinem Leben zu etablieren. Dabei geht es nicht so sehr darum, welche Faktoren bei der Art der Therapie und der Therapeut*in liegen (das beleuchte ich sicher in einem zukünftigen Beitrag noch mal genauer ;)), sondern darum, was du tatsächlich beachten und ausprobieren kannst. Das kann dir außerdem helfen, eine Idee zu bekommen, wie Psychotherapie effektiv werden kann und wo du deinen Fokus immer wieder hinbringen kannst.


Als Klient*innen haben wir selbst oft zwar eine Idee von den Hindernissen und Problemen, die unser Leben einschränken - was aber die dahinter liegenden Themen sind bzw. auch die Fähigkeiten, die uns fehlen, weil wir sie in der eigenen Geschichte womöglich gar nicht ausreichend entwickeln konnten, können wir in den meisten Fällen selbst überhaupt nicht sehen. Deshalb ist es so wichtig, mit deiner Therapeut*in immer wieder abzugleichen, wie sie* dich sieht und worum es aus ihrer* Sicht für dich geht. Es lohnt sich außerdem immer wieder gemeinsam zu schauen, wo ihr euch gerade befindet und was dein grundlegender Auftrag für die Therapie ist.


Ein Beispiel:

Ich fühle mich von Menschen oft nicht ernst genommen und mache immer wieder die Erfahrung, dass Menschen gefühlt meine Grenzen überschreiten und ich mich dann ärgere, dass mein Nein nicht ankommt. Meine eigene Idee dazu ist, dass ich mich mehr abgrenzen und deutlicher darin werden müsste, meine Grenzen und Bedürfnisse zu kommunizieren. Meine Therapeutin spiegelt mir, dass ich aus ihrer Sicht wenig präsent bin und kaum Raum einnehme bzw. meinen Raum nur sehr wenig verkörpere. Aus ihrer Sicht geht es für mich erst einmal darum, meinen Raum und damit auch Grenzen mehr zu fühlen und auch zu füllen (energetisch und physisch).

Diese Fähigkeit hat erstmal noch gar nichts mit verbaler Kommunikation zu tun, weshalb das, was wir in der Therapie tun vielleicht ganz anders ist, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich merke aber im besten Fall im weiteren Verlauf, dass Menschen anders mit mir umgehen, respektvoller und freundlicher sind und ich weniger das Gefühl habe, jemand übertrete meine Grenzen.


Erfahrung ist mehr als "nur" Erkenntnis


Wenn du von dir weißt, dass du dazu tendierst, „im Kopf unterwegs zu sein“, das heißt, dass dir sehr wichtig ist, Dinge zu verstehen und du dich manchmal vielleicht sogar in deinen eigenen Gedanken und Grübeleien verhedderst, macht es sehr viel Sinn, das in der Therapie anzusprechen. Deine Therapeut*in wird das sowieso im Blick haben, wenn sie* erfahrungs- und körperorientiert arbeitet, aber es kann dir enorme Vorteile bringen, wenn du auch selbst darauf achtest, dich zu Langsamkeit zu „erziehen“.


Unser Verstand ist ein Vorhersage-Organ und je nachdem, welche Frage du ihm stellst, wird er immer dazu neigen, analytisch vorzugehen und dir alle ihm zur Verfügung stehenden Lösungswege auszuspucken. Das Problem ist - um bei der Rechner-Analogie zu bleiben - dass er immer nur die Rechenprogramme benutzen kann, die installiert worden sind. Sprich: dein Gehirn kann Antworten und Interpretationen immer nur auf Basis deiner bereits gemachten Erfahrungen (=deiner Geschichte) produzieren. Wenn es um Gefühle und Erleben geht, dass du so in deinem bisherigen Leben vielleicht noch nie oder nicht "ausreichend" erlebt hast, stehen deinem Verstand schlicht nicht die Ressourcen zur Verfügung, um damit etwas zu tun. Deshalb kann es sein (und ist sogar gut!), dass du dich während des Therapieprozesses immer mal verunsichert fühlst und an Orte gelangst, an denen du dich überhaupt noch nicht auskennst. Hier beginnt der spannende Teil, denn das sind die Orte, an denen neues Erleben in dein System findet.


Wie sich dein Körper anfühlt, wenn du frische Erdbeeren aus dem Garten der lieben Nachbarin isst, findet nicht im Kopf statt.


An diesem einfachen Beispiel kannst du leicht sehen, dass unser Verstand zwar eine unverzichtbare und wichtige Instanz (auch in deinem Veränderungsprozess) ist, dass jedoch die Erfahrung davon, wie sich dein Leben und z.B. deine Beziehungen für dich anfühlen, sich woanders abspielt. Und zwar - surprise surprise ;) - im Körper! Was wir über unsere 5 Sinne, über Körperempfindungen, darüber, wie sich der Körper in Bewegung anfühlt und über Emotionen wahrnehmen, bestimmt, wie sich das Leben anfühlt und welche Qualität es für uns hat - warm, erfüllt, zufriedenstellend, nährend oder auszehrend, anstrengend, wie ein Kampf...


Deshalb ist für mich der wichtigste Aspekt in der therapeutischen Arbeit, dass ein Raum entstehen kann, in dem neue Erfahrungen möglich sind. Wo die gewohnten Mechanismen (und vielleicht ja auch der Kopf) mal eine Pause machen dürfen und sich Dinge zeigen können, von denen du vielleicht gar nicht geahnt hast, dass es sie in dir gibt.


Langsamkeit kultivieren - Psychotherapie nutzen


Es geht so schnell, dass wir uns selbst und unseren Gefühlen über das Sprechen und Denken davon laufen - das kann einerseits ein sehr wichtiger Bewältigungsmechanismus sein, um mit schwierigen Zuständen umzugehen. Andererseits verhindert es oftmals auch, dass wir Kontakt zu Gefühlen und unserem Körper bekommen, was uns noch mehr in die Dissoziation bringen kann und vor allem auch verhindert, dass neuer Input in unser Körper-Psyche-System kommen kann. Es eröffnet dir viel mehr - und vor allem neue - Möglichkeiten, wenn du dich selbst immer wieder ein bisschen an Langsamkeit erinnerst.


Du kannst zum Beispiel darauf achten, immer wieder anzuhalten, aus dem Reden rauszukommen, wenn du merkst, dass du ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle hast, auch in der Sitzung, sprich es an! Natürlich ist es vor allem Aufgabe deiner Therapeut*in, dich immer wieder ins Spüren und auf die Erfahrungsebene zu bringen. Dennoch kannst du auch selbst darauf achten, dass ihr euch nicht zu viel auf der rein kognitiven Ebene aufhaltet. Damit meine ich natürlich nicht, dass du es die ganze Zeit allein hinbekommen musst, zu sehen, wo du bist und dass du nicht „davon läufst“ ;) Es lohnt sich, in der Therapie gemeinsam immer wieder darauf zu achten: Wie viel redet ihr? Wie viel kommst du ins Spüren? Passiert etwas Neues für dich?


Grundlegende Prozesse statt konkrete Probleme und Symptome zu bearbeiten


Außerdem kannst du achtsam dafür sein, nicht jede Stunde ein neues Problem „mitzubringen“, dass du dann mit deiner Therapeut*in besprichst, denn auf die Art wird die Therapie weitestgehend sehr kurzfristige Effekte haben - denn sicher kennst du das: Probleme gibt es immer…

Ziel einer nachhaltigen Psychotherapie sollte es immer sein, dass du neue Fähigkeiten, mit Situationen und Gefühlen umzugehen, lernst. Und mit lernen meine ich nicht, dass du eine theoretische Idee davon hast, sondern dass du im sicheren Rahmen der Therapie neue Verhaltensweisen ausprobieren und wirklich auch verkörpern kannst. Ein gutes Beispiel dafür ist das Thema Grenzen und „Nein sagen“. Meiner Erfahrung nach haben fast alle Menschen, die in Therapie gehen, damit ihre Schwierigkeiten und es verändert nicht wirklich viel auf einer theoretischen Ebene zu verstehen, wie es gehen könnte.


Vielmehr ist es wichtig, zu fühlen, was bei dir intern passiert, wenn du dir vorstellst, zu deinem Gegenüber Nein zu sagen oder eine Grenze zu formulieren. Denn dann bekommst du Zugang zu den Gefühlen, vor denen es dich schützt, in deinem Alltag am Ende vielleicht doch oft Dinge zu tun, die du eigentlich gar nicht willst. Es ist wichtig, in Kontakt mit diesen oft schmerzhaften Gefühlen zu kommen, und sie mit liebevoller und sicherer Begleitung zu integrieren. So können sie nach und nach in die Vergangenheit rücken und du bekommst mehr Spielraum für das Hier und Jetzt.


Ein Kompass, der hoffnungsstiftend in Richtung der Sonne zeigt.

Wachstum findet nicht in der Komfortzone statt


Wenn du hier auf meiner Seite diesen Artikel liest, hast du sicher schon etwas von der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges und dem Window of Tolerance gehört. Sie beschreiben, wie unser Nervensystem ständig überprüft, ob wir uns sicher oder bedroht fühlen – und darauf mit bestimmten Körperzuständen reagiert. Fühlen wir uns sicher, können wir offen, verbunden und neugierig sein - dann bewegen wir uns innerhalb des sogenannten Window of Tolerance. Wenn unser System dagegen Gefahr spürt (oder meint, Gefahr, zu spüren), schaltet es automatisch auf Stress oder Rückzug um – also in Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsreaktionen und wir fallen aus dem Tolerlanzbereich. Das passiert so automatisch, dass wir häufig gar nicht bemerken, dass die Programme schon laufen. Das Wissen darum kann dir helfen, zu verstehen, dass viele deiner Reaktionen nicht „falsch“ sind, sondern natürliche Schutzversuche unseres Körpers. In der Therapie kann dieses Verständnis ein wichtiger Schlüssel sein, um Mitgefühl für dich selbst zu entwickeln und neue Erfahrungen von Sicherheit zu ermöglichen.


Wachstum und nachhaltige Veränderung finden immer an den Rändern deines Window of Tolerance statt – also genau dort, wo dein System spürt: Hier kenne ich mich nicht aus. Das ist der Bereich, in dem du dich vielleicht unsicher, verletzlich oder auch mal überfordert fühlst. Es ist ein schmaler Grad zwischen genug Aktivierung, um das Window of Tolerance zu "weiten" und dem Kippen in die Übererregung, aber genau da beginnt der spannende Teil! Nach der Polyvagal-Theorie sind das die Momente, in denen dein Nervensystem lernt, sich in neuen Zuständen von Aktivierung oder Nähe zu regulieren, statt in alte Schutzmuster zu fallen. Es fühlt sich anfangs selten angenehm an, weil du dich in unbekanntem Terrain bewegst – aber genau hier entsteht Entwicklung. Wenn du in der Therapie beginnst, etwas Neues zu fühlen, zu wagen oder auszuhalten, übst du, dein Nervensystem auf mehr Lebendigkeit, Kontakt und Sicherheit zu erweitern. Und genau das ist der Kern von Veränderung: nicht, dass alles plötzlich leicht wird, sondern dass du immer häufiger spürst – ich kann da bleiben, auch wenn es ungewohnt ist.


Heilung beginnt da, wo du beginnst, etwas zu fühlen, zu dem du noch keine internen Schubladen und Kategorien hast.


Psychotherapie - so wie ich sie verstehe - ist kein Ort, an dem du einfach „repariert“ wirst (denn du bist ja nicht "kaputt"!), sondern ein Raum, in dem du dich, die Welt und das Leben neu erfahren kannst – mit all dem, was dich ausmacht. Veränderung geschieht, wenn du bereit bist, dich immer wieder ein Stück in dieses Unbekannte hinein zu lehnen, statt davor zurückzuweichen.


Es braucht Mut, Geduld und Mitgefühl mit dir selbst, sowie Vertrauen in den Prozess und deine Begleitung, um diesen Weg zu gehen. Aber genau dort, wo du beginnst, dich selbst anders zu erleben, beginnt auch Heilung – leise, echt und dauerhaft.




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